Eine Rüstung aus Pelz und Perlen

Der Schwere Gang zur Tafel: Ohne den dicken Nerzmantel und viel Goldschmuck als Selbstschutz, kann Edith Kieselbach nicht über ihren Schatten springen und fremde Hilfe annehmen.

 

20130823 tafel3Seit einem halben Jahr ist ihre Tochter, eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern, auf die Hilfe der Cuxhavener Tafel angewiesen. Doch ihre Scham ist zu groß, nahezu umsonst Lebensmittel anzunehmen, die eigentlich für den Abfalleimer gedacht waren. Ohne  die Waren aus der Tafel, könnte sich die Familie jedoch nicht ausreichend versorgen. Deshalb übernimmt Großmutter Edith die Aufgabe, die Lebensmittel von der Tafel abzuholen und sieht sich nun erstmals in ihrem Leben mit akuter Armut konfrontiert.

Seit einer halben Stunde sitzt sie auf dem eierschalenfarbenen Plastikstuhl und wartet darauf, aufgerufen zu werden. Ungeduldig fummelt Edith Kieselbach an ihrem roten Berechtigungsschein herum, versteckt sie ihre Hände dann wieder in den Taschen ihres wallenden, grauen Nerzmantels. Sie blickt starr zur anderen Seite des Raumes. Ihr faltiges Gesicht lässt die vergangene Schönheit noch erahnen. Der rote Lippenstift ist nicht mehr so akkurat gemalt wie früher und die großen Perlenohrringe hängen an schlaffen Ohrläppchen.

Mit ihr im Raum sitzen und stehen die Armen, die Elenden. Zerschlissene Jeans, durchgelaufene Schuhe, mit Löchern und einem lächerlichen Rest Sohle. „Die meisten haben heute auch noch kein Wasser gesehen“, flüstert Edith.

Der Raum, in dem sie alle warten, riecht nach Fisch und verdorbenen Nahrungsmitteln, wie ein Abfalleimer. Er ist Teil eines ehemals schon zum Abriss freigegebenen Backsteingebäudes im Hafen der Nordseestadt Cuxhaven. Man gelangt in den dunklen Raum durch einen langen Flur. An den Seiten vertrocknete Pflanzen. Weiß geflieste Wände. Wackelige Stühle. Ein zerschlissenes Sofa und ein alter Ledersessel. Abrissstimmung. Der Backsteinboden wurde lange nicht gefegt. Es ist kalt und zugig. Eine Mutter, etwa 20 Jahre alt, zieht den Reißverschluss der Fleecejacke ihrer Tochter hoch.

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Es ist Montagmorgen, gleich halb elf. Alle warten darauf endlich an der Reihe zu sein, um ihre Ration Nahrungsmittel zu erhalten. Sie sind Bedürftige und werden von der Cuxhavener Tafel mit Lebensmitteln versorgt. Menschen, die ihren Job verloren oder nie einen hatten. Menschen aus fremden Ländern, die die Hoffnung auf ein besseres Leben hier stranden ließ. Und zunehmend Menschen, die zwar arbeiten, deren Lohn aber nicht ausreicht, um ihre Familie ausreichend zu versorgen.

Auf Edith Kieselbach trifft nichts von allem zu. Die 72-jährige Rentnerin hat ihr ganzes Leben gearbeitet. Lange bei einem Rechtsanwalt und später in der Verwaltung eines Altenheims. Ihr Mann ist vor ein paar Jahren verstorben. Von ihrer Rente kann sie alleine gut leben. Das hart erarbeitete Geld reicht für Theaterbesuche, schöne Kleidung und manchmal einen Ausflug ins nahe Hamburg. Es sind Welten, die Edith von den übrigen Menschen im Raum trennen, nicht nur die Zahl auf ihrem Konto. Bei ihren ersten Besuchen in der Tafel hätten die anderen Kunden ganz schön gestaunt, erzählt Edith. „Die brauchten eine Zeit, um zu begreifen, dass ich wie sie da war, um Nahrungsmittel abzuholen und nicht für die Altkleidersammlung spenden wollte.“

„Ich fühle mich wie eine Bettlerin, wenn ich hier bin.“

Aber Edith Kieselbach ist nicht hier, um für sich selbst günstig Nahrungsmittel zu besorgen. Ihre jüngere Tochter ist auf die Hilfe der Tafel angewiesen. Die Friseurin ist alleinerziehende Mutter dreier Kinder. Erst vor kurzem hat sie sich von ihrem Ehemann getrennt. Das Geld ist knapp, zu knapp. Sie selbst traut sich nicht in die Tafel, zu groß ist die Scham von jemandem erkannt zu werden. „Ich kann das nicht, ich will nicht arm sein“, sagt sie. Deshalb springt die Großmutter ein.

Jeden Montag kommt Edith in die Tafel, um Essen für ihre Tochter abzuholen. Jedes Mal aufs Neue muss sie sich überwinden hinein zu tauchen, in eine Welt, die ihr so fremd ist. Hierher, wo sie sich für ihre Anwesenheit schämt und einen dicken Pelzmantel als Rüstung braucht, um sich sicher zu fühlen. Sie will sich nicht „wie eine Bettlerin“ fühlen.

Ihrer Tochter einfach Geld in die Hand drücken, kommt für Edith nicht in Frage. „So einfach mache ich es mir nicht. Ich will, dass sie da wieder herauskommt. Ich helfe ihr, damit sie sich selbst hilft.“

Die große Stahltür geht langsam auf und eine kleine Frau in kastanienbrauner Bluse tritt heraus. „Die Nummern 150 bis 200, Sie können dann bitte herein kommen!“ Die Leiterin der Tafel, Barb Lockstein, hat die nächste Gruppe zur Warenausgabe gerufen. Überall im Warteraum erheben sich Leute, nehmen die großen Einkaufstaschen, die sie mitgebracht haben und gehen durch die Tür in eine große Halle.

Gegenüber von Edith Kieselbach fängt eine Frau mit Schleier über dem Haar leise an zu weinen. Ihre Bekannte neben ihr tröstet sie, dann stehen beide auf und gehen auch in die Halle. „So habe ich mich auch bei meinem ersten Besuch hier gefühlt. Der erste Besuch ist immer furchtbar. Man fühlt sich, als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen“, sagt Edith, als sie die Frau sieht. „Ich wusste ja gar nicht, was mich hier erwartet. Und gleichzeitig war ich auch so wütend auf meine Tochter, dass sie sich aus ihrer Verantwortung stiehlt. Hier ist nun mal niemand gerne.“

Die Armut nimmt Tag für Tag zu

Edith hat die Nummer 293 und muss noch einige Zeit warten, bis auch ihre Gruppe hinein gerufen wird. Heute sind viel mehr Menschen hier als sonst. Es hat sich eine lange Schlange in der Halle gebildet. Kaum jemand spricht. Über alle Köpfe hinweg kann man die Gespräche an der Warenausgabe hören. „Hätten Sie gerne einen Strauch Tomaten oder lieber drei Bananen?“ – „Lieber die Bananen“.

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Über drei lange Malertische werden den Kunden die Lebensmittel gereicht, die vorher von einem der etwa 60 freiwilligen Helfer der Tafel für den Kunden zusammengestellt wurden. Je nach Familiengröße. Dabei müssen die Helfer besonders Acht geben, die Lebensmittel gleichmäßig heraus zu geben, damit auch für die Kunden am Ende des Tages noch genügend Bananen, Kohlköpfe und Brote da sind. Zwar spendeten die umliegenden Supermärkte fleißig, erzählt Barb Lockstein. Doch durch die stetig wachsende Zahl an Bedürftigen, müsse man häufig Menschen mit nahezu leeren Händen wieder nach Hause schicken. Seit ihrer Gründung vor elf Jahren hat sich die Zahl der Menschen, die von der Cuxhavener Tafel Nahrungsmittel empfangen vervierfacht, von 500 auf über 2000 – in einer Stadt mit nur 50 000 Einwohnern.

Langsam drängt sich die Schlange Richtung Warenausgabe, vorbei an einem Tisch, auf dem  eine grüne Metallschatulle steht. Hier an der Kasse sitzt Frau Gruns. Jeder Kunde entrichtet einen kleinen Obolus von 1,50 Euro für einen Ein-Personen-Haushalt und 2 Euro ab zwei Personen. „Zum Monatsende erleben wir leider immer wieder, dass die Leute sich die 2 Euro anschreiben lassen müssen“, berichtet Frau Gruns. „Man kann sich gar nicht vorstellen, wie furchtbar sich das für die Betroffenen anfühlt. Bei mir werden leider oft Tränen vergossen. Dabei braucht sich dafür niemand schämen, schließlich wissen wir, dass es an allen Ecken und Kanten fehlt.“

Seine Scham abzubauen, braucht Zeit

Edith unterhält sich mit einer kleinen, sehr dünnen Frau vor ihr. Mittlerweile traut sie sich solche kurzen Gespräche mit den anderen zuführen. Die Lederjacke der Frau hat ein Loch am Ellenbogen. Sie arbeitet in einem Hotel am Strand als Putzfrau. Hinter ihr hängt ein großes Plakat des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes mit der Aufschrift „Arm trotz Arbeit“. Ohne die Hilfe, die sie hier erhalte, könne sie nicht über die Runden kommen, sagt sie. Allein die Vorstellung, dass ihre Waschmaschine kaputt gehen könne oder sie sich neue Kleidung leisten müsse, bereiten ihr „Schwindel und Kopfzerbrechen.“ Seit etwa zehn Jahren hat sie kontinuierlich ihre Ausgaben immer weiter gekürzt. „Ich hechele den steigenden Preisen hinterher. Alles was teurer wird, muss ich irgendwie auffangen.“ Dazu hat sie alle ihre Versicherungen gekündigt, auch die Privathaftpflicht.

Die kleine Frau ist seit der Gründung der Tafel Kundin. Sie erinnert sich noch an die Zeit, in der die Kunden teilweise stundenlang vor der Tür der Diakonie in der Innenstadt warten mussten, weil die Tafel nur einige Räume im Keller des Gebäudes zur Verfügung gestellt bekommen hat. „Da ist man über diesen Luxus hier schon richtig dankbar“, schmunzelt sie. „Vor allem bei Minusgraden ist das eine ziemliche Plackerei. Und es ist auch viel diskreter als vorher, weil man nicht mehr vor der Tür steht und alle dich sehen.“

Durch die Menschenmenge nähert sich Barb Lockstein und begrüßt Edith und ihre Gesprächspartnerin. „Haben Sie schon unsere kleine Lady gesehen?“ fragt sie und zeigt auf das blonde Mädchen in der rosa Fleecejacke. Lockstein redet gerne und viel mit den Kunden der Tafel. „Ich möchte ihnen ihr Unbehagen nehmen. Niemand muss sich schämen hier her zu kommen.“ Der erste Besuch in der Tafel sei für jeden sehr schwer. „Wir erleben es oft, dass Menschen nur kurz gucken kommen und schnell wieder gehen oder mitten in der Schlange weinen. Viele erzählen uns dann, sie fühlten sich, als würden sie betteln.“ Sie streicht behutsam mit der Hand über Ediths Schulter. Mit der Zeit würden die Hemmungen jedoch abgebaut und manchmal entwickele sich ein entspanntes Miteinander. „Wir interessieren uns für jeden und da ist es doch selbstverständlich, dass man fragt, wie es denn dem Ehemann geht oder ob bei der Tochter in der Schule alles glatt läuft. Die Menschen hier bemerken dann, dass wir sie herzlich aufnehmen und immer ein offenes Ohr für alle haben. Man braucht einfach viel Einfühlungsvermögen.“

Die Schlange bewegt sich vorwärts und endlich ist Edith an der Reihe. „Hätten Sie gerne Roggenbrot?“, fragt die Helferin mit der blaugemusterten Schürze. „Das haben wir vorhin ganz frisch bekommen!“

Edith lädt zwei große, bis oben gefüllte Taschen in den Kofferraum ihres Autos und fährt zur Tochter in die Stadt. Sie möchte die Lebensmittel noch schnell abgeben, bevor sie zum Kaffee bei einer Freundin eingeladen ist. Als sie bei der Tochter klingelt, macht man ihr auf, doch zum Tragen kommt niemand herunter. So trägt sie selbst die Taschen in den vierten Stock des Altbaus, in den ihre Tochter mit ihrem neuen Freund und den drei Kindern gezogen ist. Oben angekommen erzählt Ediths Tochter von ihrer erneuten Schwangerschaft. Damit haben sich Ediths Hoffnungen auf bessere Zeiten endgültig zerschlagen.

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Autor

Timm Giesbers (Deutschland)

Studium / Arbeit: Journalismus und Politikwissenschaft / Freie Mitarbeit bei Print- und Online-Medien

Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und etwas Portugiesisch

Europa ist… mein Zuhause.

Author: Anja

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