Großbritannien nach dem Brexit: Die zerplatzen Hoffnungen junger Europhiler

Das Vereinigte Königreich hat für den Austritt aus der EU gestimmt, eine knappe Entscheidung, die viele Briten, ganz besonders die jungen, frustriert und besorgt zurücklässt. Unsere Autorin versucht die Reaktion derjenigen 48% der Wähler, die bleiben wollten, zu beschreiben, und wie es sich jetzt in einem Großbritannien nach dem Brexit anfühlt.

Den Moment, in dem ich am Freitag den 24. Juni morgens die Nachricht erfuhr, werde ich vermutlich nie vergessen. Meine unmittelbare Reaktion auf das Ergebnis war totale Ungläubigkeit, gefolgt von einer großen Portion Wut. Wut darüber, wie das Vereinigte Königreich jetzt vor Europa und der Welt aussieht, wie die in sich gekehrten, geringschätzigen Anhänger der UK Independence Party. Wut darüber, dass die 48%, die für den Verbleib in der EU gestimmt haben, auf der internationalen Bühne größtenteils ignoriert werden. Wut darüber, dass, um ganz ehrlich zu sein, es nicht so gelaufen ist, wie ich es wollte. Kurz darauf folgte ein Schamgefühl, das noch immer nicht ganz verschwunden ist.

Für mich persönlich waren die Tage seit dem Referendum schwierig und bestürzend. Ich wollte von ganzem Herzen, dass das Vereinigte Königreich bleibt. Ich wollte am Erwachsenentisch sitzen und weiterhin zu dem funktionierenden und konstruktiven System internationaler Zusammenarbeit beitragen, welches ich bewundere. Ich kann mich ganz ohne Ironie als europhil bezeichnen, ich habe als junge Erwachsene schon in Frankreich und Deutschland gelebt und die Sprachen dieser Länder, ihre Literatur und ihre Politik studiert. Europa fasziniert und inspiriert mich, diese Kulturen sind wie meine zweite Heimat geworden, beruhigend, aber auch aufregend. Ich habe diesen Teil von mir nie als mit britischer Politik oder der öffentlichen Meinung unvereinbar gesehen, aber diese Abstimmung hat mich eines Besseren belehrt.

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Wenn Meeting Halfway die Inspiration dieser Gruppe europäischer Übersetzer ist, so scheint es, als ob Großbritannien “Ich zuerst” als seine Inspiration gewählt hat. Dass Großbritannien Europa abgeneigt gegenübersteht, oder sich manchmal sogar als überlegen betrachtet, ist nichts Neues. Nehmen wir zum Beispiel den bekannten modernen Mythos einer englischen Schlagzeile aus dem frühen 20. Jahrhundert: “Fog in the channel, Continent cut off” (“Nebel über dem Kanal, Kontinent abgeschnitten”). Ich hatte gedacht, dass dieses Phänomen in den Hintergrund des britischen Alltags gedrängt worden war, etwas, das in Witzen und Anekdoten auftaucht, aber niemals ernsthaft. Als mich am 24. Juni jedoch das Ergebnis der Abstimmung aufrichtig überraschte, musste ich feststellen, dass ich mich vielleicht einer beschämenden Ignoranz schuldig gemacht habe, indem mir nicht bewusst gewesen war, wie unterschiedlich das Bild anderer Briten von Europa und seinen Institutionen ist.

Meine europäischen Freunde und Kollegen waren von dem Ergebnis des Referendums ehrlich verblüfft. Wenn ich die Reaktionen europäischer Nationen lese, die ich als zweite Familie und Kultur betrachte, überkommt mich ein Gefühl der Hilflosigkeit. Ich glaube, wir schaffen es nicht, ihnen zu vermitteln, wie sehr die jüngere Generation des Vereinigen Königreichs in der EU bleiben und an ihr mitwirken wollte. (73% der Wähler zwischen 18 und 24 Jahren haben für “Remain” gestimmt.) Wenn es eine Sache gibt, von der ich möchte, dass sie unsere europäischen Nachbarn verstehen, ist es die Tatsache, dass junge Briten mit überwältigender Mehrheit unseren Verbleib unterstützt haben.

Mitten in diesem zeitweiligen politischen und wirtschaftlichen Chaos zeigt sich, dass viele Menschen, besonders die jungen, vor allem eine gemeinsame Erfahrung gemacht haben, und das fast unabhängig von ihrem politischen Standpunkt: Aufzuwachen und das Land, in dem sie leben, nicht ganz wiederzuerkennen. Diese Erfahrung beschränkt sich nicht nur auf ein einfaches “Der Morgen danach”-Phänomen. Das Vereinigte Königreich scheint ein anderes Land zu sein als vor dem Referendum, was zugegebenermaßen eigentlich unmöglich ist. Das Referendum hat eine Seite meines Landes zum Vorschein gebracht, von der ich nicht dachte, dass sie existiert, oder jedenfalls nicht mehr. Es gibt viel zu tun, um das Leben der Leute hier zu verbessern, um ihre politische Unzufriedenheit zu erkennen und sich damit auseinanderzusetzen, damit sie beseitigt werden kann. Dies eingesehen zu haben ist vielleicht der schwache Lichtblick inmitten einer zerstörerischen Gewitterwolke.

Die Liste von neuen unangenehmen Gegebenheiten, mit denen man sich im Nach-Referendums-Großbritannien rumschlagen muss, ist lang. Da ist das Gefühl der Ohnmacht und Frustration über das Format eines Referendums, um das das britische Volk nicht gebeten hat, und worüber es allem Anschein nach nicht allzu lange nachgedacht hat. Da ist die Tatsache, dass ich mitbestimmen konnte, und dass diese Mitbestimmung letztendlich nichts gebracht hat. Donald Trump einen Gefallen getan zu haben, ist nicht auszuhalten. Von Leuten wie Marine Le Pen unterstützt zu werden, ist vielleicht noch schlimmer. Aber genauso wichtig ist es jetzt, mit der Entscheidung, die demokratisch gefällt wurde, zu arbeiten, und damit anzufangen, den Schaden, den diese Entscheidung uns bringen wird, in Grenzen zu halten.

Ich weiß, dass sich für mich die Dinge auf persönlicher Ebene nicht wesentlich ändern werden. Ich werde weiterhin durch Europa reisen, mich davon inspirieren lassen und davon lernen, und ich kann mir kaum vorstellen, dass es irgendwann eine Zeit geben wird, in der das nicht der Fall sein wird. Aber die Tatsache, dass die Grundsätze meines Landes jetzt nicht mehr mit meinen persönlichen Überzeugungen übereinstimmen, wird mir auch weiterhin nahe gehen.

Wenn dein Land sich aufmacht und ohne dich etwas tut, etwas, das dich und andere in deinem Alter in Wahrheit am allermeisten betreffen wird, dann wird es schwierig, ein Gefühl von Unbehagen und Verbitterung zu unterdrücken. Ich hoffe, dass dieser anfängliche emotionale Rückschlag so weit abklingen wird, dass wir konstruktiv an der neuen Gestalt der Beziehung Großbritanniens zur EU mitwirken können. Die Zeiten mögen vielleicht anstrengend werden für Großbritannien – und leider auf für Europa -, aber die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der Leute in meinem Alter so abgestimmt hat wie ich, stimmt mich hoffnungsvoll für eine Zukunft, in der wir zusammen daran arbeiten können, näher an Europa heranzuwachsen, als unsere stetig weniger werdenden “Brexiteers” es zu wollen scheinen.

 

Autorin

Sarah Robinson (England)

Studium: Französische und Deutsche Sprache und Literatur

Sprachen: Französich, Deutsch und Englisch

Europa ist… komplex und unbezahlbar.

Illustration

Luzie Gerb (Deutschland)

Studium: Kunstgeschichte, Kunsterziehung und Vergleichende Kulturwissenschaft

Sprachen: Deutsch, Englisch, Schwedisch, Französisch

Europa ist… voller magischer Orte, interessanter Menschen und ihren Geschichten.

Webseite: www.luzie-gerb.de

Übersetzung

Anja Meunier (Deutschland)

Studium: Mathematik und Wirtschaft

Sprachen: Deutsch, Englisch, Spanisch

Europa hat… schöne Länder, interessante Leute, einen tollen Lebensstil. Und die Notwendigkeit zusammen zu halten.

500px: Anja Meunier

Korrektur

Birger Niehaus (Deutschland)

Studium: Deutsch / Skandinavistik

Sprachen: Deutsch, Englisch, Schwedisch, ein bisschen Isländisch und Finnisch

Europa ist … dieses Fleckchen zwischen Alaska und Västerås.

Author: Anja

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