Von Texas nach Kharkiv – Ansichten eines Amerikaners in der Ukraine

Nile Miller kam als Austauschstudent aus Austin, Texas in die Stadt Kharkiv im Osten der Ukraine. Als er kam, konnte er nicht ahnen, dass er während seiner Zeit in diesem Land Zeuge einer Revolution werden würde. Für MH teilt er seine Eindrücke eines Landes, das er den Leuten zuhause oft kaum greifbar machen kann.

Auf Russisch scheint es für jede große oder kleine Alltäglichkeit des Lebens ein Sprichwort zu geben. Eines dieser Sprichwörter lautet, “Deine Zunge wird dich bis nach Kiew bringen”, und so fand ich mich vor ein paar Monaten direkt auf dem Maidan Nezalezhnosti (Platz der Unabhängigkeit) in Kiew wieder. Es war der Tag nach Präsident Yanukovichs schicksalhafter Entscheidung, einem Abkommen den Rücken zu kehren, das für die Ukraine den langen aber ausgetretenen Pfad zur EU-Mitgliedschaft bedeutet hätte, und ich war zufällig in der Hauptstadt. Als ich auf dem Maidan stand und Dutzenden frustrierten aber optimistischen Protestanten beim Tanzen und Singen zusah, über ihren Köpfen ein Baldachin aus EU-Flaggen und den blau-gelben Fahnen der Ukraine, der im Wind und Regen des späten Novembers flatterte, hätte ich nie gedacht, dass ich gerade Zeuge des Beginns einer Revolution wurde. Um ehrlich zu sein, waren es meine unspezifische Wanderlust und mein Interesse an der russischen Sprache gewesen, die mich, einen Universitätsstudenten aus Texas, zuerst mit der Idee spielen ließen, ein Jahr in der Ukraine zu studieren. Aber nach fast einem halben Jahr hier habe ich gemerkt wie einzigartig dieses Land ist, das sich auf der unsicheren Spannungslinie zwischen russischer Vergangenheit und europäischer Zukunft befindet.

Die heutige Ukraine ist im Grunde die Verbindung zweier historisch, geographisch und sprachlich eigenständiger Regionen: Der Ukrainisch-sprachige, europäische Westen mit seinen engen, gepflasterten Gassen und katholischen Kirchen, und der russifizierte, stark industrielle Osten. Ich studiere in Kharkiv, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, was ein kurze Zugfahrt von der russischen Stadt Belgorod entfernt liegt. Bis 1934 war Kharkiv die Hauptstadt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik; noch heute brüstet sich die Stadt damit, die erste Hauptstadt der Ukraine gewesen zu sein. In Sowjetzeiten war sie ein wichtiges Zentrum für Bildung, Kultur und Wissenschaft. Wenn die östliche Hälfte der Ukraine eine Hauptstadt hat, verdient gewiss Kharkiv diesen Titel. Die ukrainische Sprache ist hier im Alltag so gut wie abwesend. Babuschkas mit versteinerten Gesichtern, die alles gesehen haben, tratschen auf Parkbänken miteinander auf Russisch. Studenten ziehen durch dunkle, überfüllte Korridore und plaudern auf Russisch. In diesem Teil der Ukraine haben die Menschen Freunde, Familie und geschäftliche Kontakte in Russland und viele überqueren regelmäßig die Grenze.

In schwachen Momenten habe ich meinen Freunden und meiner Familie sogar erzählt, dass der Ort an dem ich lebe “im Prinzip Russland” sei, weil es mir so schwerfällt, für sie ein Bild vom Leben in der Ukraine zu zeichnen, einem Land, das die meisten Amerikaner offen gesagt nicht einmal auf einer Karten finden könnten. Zunächst ist die Ukraine eines der ärmsten Länder Europas. Obwohl es den Ukrainern heute besser geht als in den Krisenzeiten, die dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgten, erzählen die Straßen voller Schlaglöcher, die bröckelnden Wohnungsfassaden und die launischen Aufzüge, mit denen ich täglich in Berührung komme, viel über die aktuelle wirtschaftliche Situation des Landes. Aber ein Besuch bei Ukrainern zuhause verdeutlicht, dass die Menschen in diesem Land das was sie haben zu schätzen wissen. Vorzeigbar auszusehen scheint in der Ukraine ein nationaler Wesenszug zu sein. Während junge Amerikaner keine Skrupel haben, wenn man sie in Sporthosen, T-Shirts und Turnschuhen durch die Straßen schlendern sieht, versuchen Ukrainer modisch auszusehen wann immer sie das Haus verlassen: Frauen werfen sich in Kleider und High Heels und Männer tragen modische Jeans und polierte, spitze Schuhe. Ob auf dem Gemüsemarkt, in der Metro oder beim Spaziergang durch den Park, Ukrainer sehen immer laufstegfertig aus. Genauso wählerisch wie bei Mode sind Ukrainer, was Freunde angeht; es kann schwierig sein, es in den engeren Freundeskreis eines Ukrainers zu schaffen, aber wenn man einmal hineingelangt ist wird man wahrscheinlich auch dort bleiben. Sie verfügen über eine Bescheidenheit, die Amerikaner mit Gefühlskälte verwechseln könnten, denn sie sparen sich das Lächeln und Lachen für Gelegenheiten auf, in denen es wirklich berechtigt ist. Die orthodoxe Kirche hat großen Einfluss auf die Gesellschaft – fast jeder Ukrainer trägt eine Kreuzkette mit drei Balken (Patriarchenkreuz) unter seinem Hemd; Männer und Frauen aller Altersgruppen bekreuzigen sich und senken den Kopf, wenn sie auf dem Weg in die Schule oder zur Arbeit an den Kathedralen mit ihren Zwiebeltürmen vorbeilaufen.

Aber der vielleicht größte Unterschied zwischen der amerikanischen und der ukrainischen Kultur ist der ukrainische Sinn für Gemeinschaft, der sich in den Jahrhunderten entwickelt hat, als die Ukrainer erst unter Leibeigenschaft litten, und dann, unter der Sowjetregierung zum Gemeindeleben gezwungen waren. Es ist eine Mentalität, die den Interessen des “Wir” den Vorrang gegenüber Interessen des “Ich” gibt. Wegen der extrem harten Umstände, die die Ukraine in Sowjetzeiten erdulden musste (sie wurde der “Brotkorb der Sowjetunion” genannt; in den 1930er Jahren fielen Millionen der menschengemachten Hungersnot namens “Holodomor” zum Opfer) entwickelten viele Ukrainer eine erbitterte anti-russische oder anti-sowjetische Einstellung. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte die beschleunigte Russifizierung der Ost- und Südukraine zu dem grundlegenden Riss den wir heute in der ukrainischen Gesellschaft beobachten können.

Das ist der Grund, warum die meisten Leute hier in der Gegend eine argwöhnische, wenn nicht sogar unverhohlen ablehnende Einstellung gegenüber der Kämpfen haben, die sich in den Straßen von Kiew entwickeln. Sie haben keine Sympathie für ihre westlich gesinnten Landsleute, die einen klaffenden kulturellen Unterschied zwischen Ukrainern und Russen sehen und Feindseligkeit gegenüber diesem Land und seiner Sprache verspüren. Während der politischen Aufregung der letzten Wochen war es in Kharkiv auffallend ruhig, der Freiheitsplatz (der größte Platz in der Ukraine und einer der größten in Europa) ist an den meisten Tagen leer, abgesehen von einem gewaltigen Weihnachtsbaum und einem kompletten Weihnachtsdorf mit Hütten, riesigen Schneemännern und lebensgroßen Puppen. Und trotz des Blutvergießens, das der Billigung einiger umstrittener Gesetze folgte, die die Rechte der Protestanten auf dem Maidan einschränkten, war die einzige ansehnliche Demonstration in Kharkiv eine zur Unterstützung der Yanukovich-Regierung. Trotzdem ist es wichtig, sich nicht von der Vorstellung täuschen zu lassen, dass sich Ostukrainer in irgendeiner Weise weniger als Ukrainer fühlen als ihre Brüder und Schwestern auf der anderen Seite des Dnepr. Als Ausländer ist es schwierig, alle Facetten des ukrainischen Ost-West-Konfliktes zu verstehen, aber ich sehe die Sache folgendermaßen: Die Ukrainer im Osten sehen in der russischen Sprache und dem russischen kulturellen Einfluss nichts, was die Ukraine an der Entwicklung ihrer eigenen Kultur und Souveränität hindern könnte, während die im Westen eine klare Abgrenzung von der Vergangenheit wollen, was bedeutet, den großen Bruder Russland links liegen zu lassen und einen eigenen ukrainischen Weg einzuschlagen.

Es erinnert mich ein bisschen an den Nord-Süd-Gegensatz in den USA, der seit Generationen die näselnden, sweet tea-nippenden Südstaatler von den geschäftigen, fortschrittlichen, schnell-sprechenden Yankees des Nordens unterscheidet – im Grunde zwei Nationen, deren Auffassungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich drastisch unterscheiden, die aber (wenn auch zeitweise widerwillig) unter einer Flagge vereint sind. Dieses Land an der Grenze Europas habe ich jetzt schon ins Herz geschlossen, und ich hoffe wirklich, dass seine Bewohner und seine Regierung einen Weg aus diesen schwierigen Zeiten finden, der allen Ukrainern einen Grund gibt, nicht darauf stolz zu sein, dass sie Russen oder Europäer sind, sondern Ukrainer.

[crp]

Autor

Nile Miller

Lebt in: Kharkiv, Ukraine

Kommt aus: Austin, Texas

Übersetzung

Luzie Gerb (Deutschland)

Studium: Kunstgeschichte, Kunsterziehung und Vergleichende Kulturwissenschaft

Sprachen: Deutsch, Englisch, Schwedisch, Französisch

Europa ist… voller magischer Orte, interessanter Menschen und ihren Geschichten.

Korrektur

Tom Tölle (Deutschland / USA)

Studium: Geschichte (PhD)

Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch, Holländisch, etwas Spanisch und Italienisch

Europa hat… eine unruhige Vergangenheit, eine verwirrende Gegenwart und eine leuchtende Zukunft.

 

 

Author: Anja

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