Neuanfang

Im Kolping-Bildungswerk in Schwandorf, Deutschland, besuchen Flüchtlinge und Einwanderer aus der ganzen Welt gemeinsam eine Klasse. Ein Unterricht der geprägt ist von verschiedenen Kulturen, alltäglichen Problemen und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Von Marion Wießmann / 18.8.2015

Sie stehen im Kreis und werfen sich einen Ball zu. Wer ihn fängt, stellt sich vor und begrüßt die Klasse mit einem „Guten Morgen“ in seiner eigenen Sprache. 14 Mal wird der Ball aufgefangen und acht Mal klingt die Begrüßung anders. Die Jugendlichen der Klasse 10b, die im Kolping-Bildungswerk in Schwandorf unterrichtet werden, kommen aus Syrien, Eritrea, dem Irak, Tschechien, Polen, Serbien und der Dominikanischen Republik. Ihre Lehrerin Anna Hanf kommt aus Ungarn. Die Schüler sind allein oder mit ihren Familien nach Deutschland geflohen, wo sie sich eine bessere Zukunft erhoffen. Die jüngsten sind 16, die ältesten schon Mitte 20. Sie erhalten vornehmlich Deutschunterricht, doch auch Sport, Sozialkunde, Kochen und Handwerken stehen auf dem Tagesplan. Alles erscheint bekannt und doch ist alles ganz anders.

An den Wänden des Klassenzimmers hängen selbstgemalte Plakate, die Titel tragen wie „Unser arabisches Lied“, „Unser spanisches Lied“, „Wir können bis zehn zählen – auf sechs Sprachen: Spanisch, Kurdisch, Persisch, Bosnisch, Tschechisch, Tigrinja“ sowie die Raumregeln oder Erklärungshilfen zu Präpositionen und ein christliches Kreuz. Gegenüber sitzen zwei Mädchen aus Syrien mit Kopftuch. Im Streit um die unterschiedlichen Religionen ist es auch schon zu Handgreiflichkeiten gekommen, erzählt die Griechin Anastasia aus einer anderen Klasse. Doch gleichzeitig kann man sehen, dass hier jeder gleichermaßen willkommen geheißen wird, egal welcher Religion er oder sie angehört. Die Jugendlichen könnten ein Vorbild für friedliches und tolerantes Miteinander sein.

Die Hauptaufgabe dieser Stunde ist es das Zirkusprojekt der vergangenen Woche zu rekapitulieren und neue Wörter aus diesem Wortfeld zu lernen: laufen, tanzen, Einrad, Clown, fliegen, werfen. Gerade die letzten beiden machen Probleme. Warum kann man nicht sagen „Ich kann den Ball fliegen.“? Nicht alle Fragen können sofort geklärt werden, denn es ist laut und lebendig im Raum, die schläfrige Lustlosigkeit deutscher Schüler gibt es hier nicht. Trotzdem läuft der Unterricht nicht unkontrolliert ab. Die Motivation zu lernen scheint hier eine andere zu sein. Die umherfliegenden Sprüche könnten auch von deutschen Jugendlichen stammen: „Ey Mann was laberst du?“ Doch manch einer bleibt still und braucht länger, weil er sich noch im Buchstabenmalen versucht. Erst vor ein paar Monaten hat er angefangen das Alphabet zu lernen. Es ist schwer in einer so gemischten Klasse, einen Weg zu finden, sich durchzusetzen und allen gerecht zu werden. Das Bildungsniveau und die Vorkenntnisse sind sehr unterschiedlich. Frau Hanf hat entschieden sich an der Mitte der Klasse zu orientieren, auch wenn das den ein oder anderen unter- oder überfordert. Ein Buch für diesen Mittelweg zu finden, ist allerdings schwer.

Noch weniger gibt es eine Anleitung zum richtigen Umgang mit jungen Menschen, die Dinge erlebt haben, über die sie nicht sprechen können – und das liegt nicht nur an mangelnden Sprachkenntnissen. Frau Hanf erklärt, dass es bei manchen oft sehr lange dauert bis sie Vertrauen fassen und emotional in der Lage sind von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Doch das Schweigen über das Erlebte hat noch einen weiteren Grund. Asylbewerber werden in das Land zurückgeschickt, in dem sie als erstes ihren Fingerabdruck abgegeben haben. Nach dem Dubliner Übereinkommen ist dieses Land zuständig für das Asylverfahren. Um den Nachfolgenden nicht den Weg zu verbauen oder um in Deutschland auf Asyl hoffen zu können, verraten viele Bewerber nichts über die Wege, die sie herführten.

Niemand weiß wie es Senait mit seinen angeblich 16 Jahren geschafft hat aus Eritrea nach Deutschland zu kommen ohne vorher abgefangen zu werden, welche Route er genommen hat. Aber er ist hier. Ohne Pass, der ist wahrscheinlich schon lange verbrannt, ohne Geburtsdaten, ohne Familie. Das Alphabet beherrscht er vielleicht noch nicht ganz, die Satzstellung des Deutschen hat er dagegen schon vor den meisten anderen verstanden.

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Illustration: Luzie Gerb

Senait weiß, genau wie die anderen, warum er lernt. Er hat keine Langeweile, Schule ist für ihn neu und spannend. Als zum Schluss der gemeinsam in der Klasse verfasste Text vorgelesen werden soll, melden sich manche sogar ein zweites Mal, um es noch besser zu machen. Wohl auch dank der Lehrerinnen haben sie hier verstanden, dass sie nicht in einem Schlaraffenland gelandet sind, sondern etwas lernen müssen, um Arbeit zu bekommen. Trotz dieses Wissens brechen viele die Beschulung früher ab und machen sich auf die Suche nach Arbeit. Viele haben Familien in der Heimat zurückgelassen, die auf finanzielle Unterstützung warten, nicht auf das Beenden einer zweijährigen Schulzeit, die den Hauptschulabschluss als Ziel hat.

Doch auch die Angst vor der Abschiebung ist allgegenwärtig. Sie bestimmt das Unterrichtsgeschehen stärker als Hausaufgaben oder die Hauptstädte im Sozialkundeunterricht, wo Frau Maxim den Schülern die wichtigsten Institutionen der EU näher bringen will. Sie sollen das System verstehen lernen, in dem sie gelandet sind. Doch dies trifft auch im Unterricht auf lautstarken Widerwillen. Immer wieder gibt es Zwischenrufe: „Wozu muss ich das wissen? Ich will nicht hier bleiben. Hier will mich niemand! Ich gehe jetzt in die USA!“

Der 24-jährige Hamit, der drei Monate zu Fuß aus Afghanistan floh, nachdem er seine Frau und seine Familie im Krieg verloren hatte, erklärt, er habe schon jetzt einen Anwalt gesucht. Er will klagen wenn er des Landes verwiesen wird. Er werde alles versuchen, um den Taliban zu entgehen, sagt er. „Hoffnung ist eine Lüge“, wiederholt er immer wieder. Wozu eine Ausbildung anfangen? In drei Jahren ist er 27. Was soll er jetzt noch anfangen? Wenn er seine Ausbildung nicht mehr rechtzeitig beenden kann oder vorher schon gehen muss, war die Mühe umsonst. Er sieht keine Perspektive für sich. „Es ist eine Katastrophe für den einzelnen, wenn er zurück in seine Heimat muss. Uns macht das jedes Mal sehr betroffen, aber es liegt nicht in unserer Hand zu entscheiden wer bleiben darf. Wir können nur versuchen den Schülern eine gute Zeit, menschliche Wärme und Bildung mitzugeben, vielleicht etwas Zuversicht“, sagt Frau Maxim.

Autorin

Marion Wießmann (Deutschland)

Studium / Arbeit: Germanistik

Sprachen: Deutsch, Englisch, Spanisch

Europa ist: interessant.

Illustration

Luzie Gerb (Deutschland)

Studium: Kunstgeschichte, Kunsterziehung und Vergleichende Kulturwissenschaft

Sprachen: Deutsch, Englisch, Schwedisch, Französisch

Europa ist… voller magischer Orte, interessanter Menschen und ihren Geschichten.

Webseite: luzie-gerb.de

Author: mariana

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